Wie lang ist die Küste Britanniens? Diese Frage ist fast schon zu einem Leitmotiv der Beschäftigung mit jenen seltsamen geometrischen Gebilden geworden, die unter dem Namen Fraktale in den letzen Jahren Einzug in viele Naturwissenschaften gehalten haben. Bekannt geworden sind sie durch die englische Ausgabe des Buches ihres Namensgebers, Benoit Mandelbrot, das unter dem Titel "Die fraktale Geometrie der Natur" auf deutsch erschienen ist.

Die Grundidee Mandelbrots ist, die Unregelmäßigkeit, Zersplitterung oder Verzweigtheit vieler in der Natur beobachteter Formen, wie Küstenlinien, Wolken, Baumrinden, Blätter oder Blitze als Naturprinzip zu betrachten und sie nicht als "formlos" oder "amorph" beiseite zu lassen, wie er dies der klassichen geometrischen Sichtweise Euklids vorwirft. In dieser Richtung möchte ich das das Großrelief von Gerd Reutter interpretieren. In dem Spannungsfeld von Individualität und Raster werden Ordnungswahrnehmung und einzigartige Gestalt im gleichzeitigen Wahrnehmungsakt thematisiert. Jedes Einzelteil ist wie gesagt autonom, gleichzeitig aber Ausschnitt einer ganzen Wand- oder Raumkonzeption und wird zudem im Laufe der Zeit seine Gestalt noch permanent verändern, ohne jedoch die Ordnungsstruktur aufzuheben.

Dieses in Sequenzen und Serien vorherrschende Prinzip der geordneten Wiederholung von gleichartigen Elementen kann der veranschaulichenden Formengebung verschiedenster Ideen dienen. Es nutzt die Spannung zwischen der Dingwahrnehmung und der Ordnungswahrnehmung auf zweifache Weise. Zum einen wird unter Betonung der ordnenden Struktur die Sinnbedeutung des einzelnen Elementes außer Kraft gesetzt und so für darüberhinausweisende Erfahrungen freigemacht. Dies geschieht, weil mit der Wahrnehmung jedes Einzelelementes keine wesentlich andere, als die ohnehin schon erwartete Information verbunden ist, und also nichts Neues mitgeteilt wird.
Diese Redundanz ermöglicht es, das Wahrgenommene durch eigene Vorstellungen zu ergänzen. Zum anderen kann durch das Serielle auch die Wahrnehmung des Einzelelements betont werden, wenn es leicht aus der Ordnung gerückt wird. Vor allem ist die Beschreibung des Seriellen zunächst ein sprachliches Problem, da zwischen Redundanz und Besonderem changiert wird.

Stichwort Spurensicherung: Die neuesten Arbeiten von Gerd Reutter lassen sich unter diese Kategorie einordnen, zeigen sie doch Schichtungen von ungebranntem Ton, angeordnet wie in einem Naturkundemuseum. Das künstlerische Vorgehen der "Spurensicherung" ist dem der Ethnologie bzw. der Archäologie nicht unähnlich, es erfaßt sowohl konkrete zeitliche Ablagerungen - das Äußere also - wie innere Tiefenschichten.
Charakteristisch ist eine systematische, quasi "wissenschaftliche" Dokumentation: Inventare, Klassifikationssysteme, Aufbereitung des Materials wie in Museen (z.B. wie in Schaukästen von Naturkundesammlungen). Die Dokumentation ist dabei zugleich planmäßig wie intuitiv, die "Wissenschaftlichkeit" natürlich Tarnung und Taktik. Der Künstler ist nicht an objektiver Wiedergabe interessiert, sondern zieht sich hinter die Anonymität des Forschers zurück, um den persönlichen Ansatz desto präziser auszuarbeiten. Die unterschiedlichen Mittel werden eingesetzt und zu komplexen Werken, ja ganzen Werklandschaften verbunden, die die allgemeine Kunst- und Kultursituation reflektieren.

Diese neuen Reliefs von Gerd Reutter sind ausgesprochen spannungsvoll, da trotz der Suggestion eines Systems im Aufbau nie der Eindruck einer mathematisch begründeten Gesetzmäßigkeit entsteht, sondern der immer intuitiv erspürten Verhältnisse. Die Außen- oder Innenkanten der Tonstücke werden nicht nur als Konturen, sondern als Linien gesehen, denen das Auge zu folgen gezwungen wird, und die wesentlich für die Spannungen, Gewichtungen und Balancen innerhalb der Objekte verantwortlich sind. Von den unterschiedlichen Neigungen der Diagonalen und der Offenheit oder Geschlossenheit der Winkel hängt es ab, ob sich die Elemente den Geraden oder anderen Linien in den Reliefs Gewicht auffangend "entgegenlehnen" oder Gewicht abgebend an- bzw. auflehnen.

Die Kommunikation der Elemente entsteht aus dem Verhältnis unterschiedlicher Winkel der Außenkanten zueinander, deren Länge und den "Gewichten" der Flächen, die von deren Ausdehnung abhängen. Alle drei Bestandteile bedingen sich wiederum gegenseitig. Keiner der Winkel und keiner der gewählten Längen einer Geraden erweckt den Eindruck der zufälligen Setzung. Vielmehr vermittelt jeder Umbruch einer Linie und das dadurch bedingte Breiter- oder Schmalerwerden der Form eine absolute Notwendigkeit, um ein auf einer höchsten energetischen Spannung gehaltenes Gleichgewicht zu erhalten. Das gelungene Austarieren der Kraftfelder in den Werken erzeugt immer den Eindruck einer dynamisierten Stabilität und Ruhe. Nicht das kleinste Detail scheint veränderbar, ohne das statische Spannungsgleichgewicht innerhalb des Bildfeldes zu sprengen, aufzulösen oder flach in sich zusammenfallen zu lassen. Wie sehr die Länge einer Geraden oder der Grad eines Winkels als Reaktion, als ein Echo auf eine andere im Objekt befindliche Form reagiert, wird gerade bei den Reliefkästen deutlich. Das Gegenüber oder auch die Fortsetzung eines Formteiles ist immer wie ein Echo in einer transformierten Form.

Gerd Reutter ist ein Plastiker, der mit Maßen maximierend umgeht, der aufbauend denkt, auch im übertragenen Sinne, dessen Plastik aufzeigen will, Grundprobleme darstellt. Bei vielen architektonisch anmutenden Plastiken fällt eine torsohafte Gesamterscheinung auf. Die durchbrochenen Flächen geben ihre Monumentalität preis, gewinnen für das Auge erfaßbare Räumlichkeit. Das Durchschauen der zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit ist dann ein intellektueller Akt, das Durchschauen der Räumlichkeit ein visuell-sinnliches Vergnügen. Zur äußeren Form treten ohne Pathos und Sentimentalität subtil spröde Oberflächen und manchmal sogar ein Höchstmaß an Fragilität. Über die Monumente der Dauer legen sich, durch die Oberflächenbehandlung des Materials verstärkt, Spuren von Zeit und Vergänglichkeit. Reutter flieht nicht in die Rhetorik der Ikonographie, benutzt aber die Dreidimensionalität der Oberfläche als malerische Möglichkeit ohne illusionären Charakter. Dabei ist er so hermetisch in seiner Kunst, ein fast manieristisches Kunstprinzip, wie offen, auf Erklärung ausgerichtet. Bei Gerd Reutter ist Ehrlichkeit und sinnliche Wahrhaftigkeit ein Anliegen, das er jenseits von Künstlichkeit ansiedelt.

Werner Marx, Kunsthalle Mannheim