Kunstverein Speyer / Kulturhof Flachsgasse
"Neuland 4"
15.07.05 bis 28.08.05
Kathrin Kirsch
Kathrin Kirsch

Kathrin Kirsch

Neben Aktzeichnung und -malerei interessiert sich Kathrin Kirsch vor allem auch für die plastische Form. In letzter Zeit entstehen vor allem keramische Kleinplastiken, die sie nach Modell spontan modelliert. Daneben reizt sie schon seit dem Studium das Arbeiten mit textilen Materialien. Der Faden - als Grundelement aller textilen Materialien - gibt Kathrin Kirsch dabei die Möglichkeit, durch kokonartiges Verspinnen eines Raumes "dreidimensional zu zeichnen".


Nikolas Hönig

Die ausgestellten Arbeiten von Nikolas Hönig sind Ergebnis seiner Beschäftigung mit Stempelgrafik, zusammengefasst sind sie Teil des Blillel-Universums, einer Sammlung kurioser Figuren und eigenartiger Begebenheiten in Bildform.


Sabine Ostermann

Ausgehend von Bildern der (Groß)stadt beschäftigt sich Sabine Ostermann in Malweise und Zeichnungen mit städtischen Strukturen und Spiegelungen. Die Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld von abbildhafter und abstrakter Darstellung.


Einführungsrede von Hans-Jürgen Herschel


"Land! Land in Sicht!" Das sind die erlösenden Worte, nach denen man sich wochenlang gesehnt hat, während man über das Meer fuhr, nichts als den Abgrund des Unerforschten unter sich und nichts als den geahnten Horizont des Neuen vor sich. Land, Neuland, "Neuland 4".

Die "terra incognita" gefunden - oder besser: erfunden - von drei Künstlern, ist zur Besichtigung freigegeben und verlockt zu Entdeckungen. Kathrin Kirsch, Sabine Ostermann und Nikolas Hönig, um den Damen den Vortritt und dem Alphabet im Übrigen sein Recht zu lassen, sind im Neuland angekommen und hoffen, es werde nun auch bei Ihnen ankommen.

Von unterschiedlichen Punkten aus in See gestochen, haben sie doch zweierlei gemeinsam: Erstens haben sie etwas mit Speyer zu tun, zweitens haben sie nicht nur mit Speyer zu tun. Oder einfacher gesagt: Die Speyerer sind nicht aus Speyer und die "Speyermer" sind nicht in Speyer. Die Speyerer Kathrin Kirsch nämlich stammt aus Bremen, während die in Speyer aufgewachsene Sabine Ostermann in Berlin lebt und der "Speyermer" Nikolas Hönig in Mainz. Schon biografisch sind alle drei geübt im Entdecken von Neuland, dem Sesshaften, dem Stehen auf nur einem Boden offenbar abgeneigt. Das wirkt sich aus auf die Kunst.

Wenn man vorsichtig zögernd den Boden des hier sich öffnenden Neulands betritt, mag man sich fragen, ob der Zufall synchroner Verfügbarkeit die drei zusammengeführt hat. Und natürlich hatte der seine Finger im Spiel. Aber man unterschätze den Zufall nicht als Assistenten der Ausstellungsmacher. Geradezu kunstvoll hat er nicht nur einen roten Faden durch diese Ausstellung gelegt, sondern ihr ein ganzes Geflecht roter Fäden übergeworfen.

Bei Kathrin Kirschs Arbeiten leuchtet das unmittelbar ein. "Mit dem Faden zeichnen" - diese Formel begleitet sie seit den Anfängen ihres künstlerischen Schaffens. Der in den Raum gespannte Faden erscheint als Analogon zur in der Fläche verlaufenden Linie. Mit einem entscheidenden Analogiebruch allerdings: Während die Linie fixiert ist und unbeeinflussbar vom Standpunkt des Betrachters, sind die Beziehungen in den Raum gespannter Fäden von der Perspektive des Schauenden abhängig. Der Betrachter wird zum Mitspieler, zum partiellen Koautor. Sein Bewegungen verwandeln das scheinbar starre Objekt in ein kinetisches. Man darf dies als kleinen Kommentar zur Relativität der Bewegung verstehen, da wir doch gerade das Einstein-Jahr begehen... Und es gibt noch einen weiteren Mitspieler, die Sonne nämlich. Je nach ihrem Einfall - und ihren Einfällen? - nimmt sie Partei für das Transparente oder für das Kompakte, unterwirft die Gespinste Kirschs also heliogenen Modifikationen.

Wie sich die vielen Fäden in einem qualitativen Sprung zu einem Gewebe zusammenschließen, so ergeht es den horizontalen, vertikalen und diagonalen Linien in Sabine Ostermanns Zeichnungen: Sie organisieren sich zu einer Struktur. Die Faszination, die Platinen und Fassaden auf sie ausüben, hat sie mit ihnen spielen lassen. In diesem Spiel verliert sich mehr und mehr der figürliche Ausgangspunkt, an die Stelle der eindeutigen Abbildung tritt eine mehrdeutige Struktur. Dabei kann, auf einem einzigen Bild, sowohl die architektonische Struktur einer Fassade sich anbieten wie die textile Struktur eines Stoffes. Was anfangs technomorph wirken könnte, wird durch den spielerischen Umgang zum Leben erweckt, macht sich auf den Weg vom Gemachten zum Gewachsenen.

Die Nachbarschaft dieser Zeichnungen Ostermanns und der im Raum schwebenden Gebilde Kathrin Kirschs ist von hohem ästhetischen Reiz. Aus einfachen Grundelementen entspringt durch Iteration die Komplexität des Gewebes. Haben sich also auf geheimen Pfaden die Künstlerinnen einander genähert und den Künstler ausgeschlossen? Nein. Die ästhetische Vorsehung ist gerecht.

Was bei Ostermann die gerade Linie, was bei Kirsch der Faden, ist bei Nikolas Hönig der Stempel. Die von ihm selbst aus Moosgummi hergestellten Stempel sind die Atome seiner Kunst, seine Stempelbilder gewissermaßen hochkomplexe Moleküle, einmalige Kombinationen. Deren Unikat-Charakter wird noch dadurch erhöht, dass Hönig seine Farben nicht vom Stempelkissen abnimmt, sondern sie individuell auf die Stempel aufträgt.

Fassen wir das erste Ergebnis der Neuland-Entdeckung zusammen: Ähnlich wie in der Atomtheorie des alten Griechen Demokrit aus einer endlichen Anzahl unveränderbarer Atome die unendliche Vielzahl ihrer Kombinationen entspringt, sind Faden, Linie und Stempel die Basis komplexer Gewebe. Ein wenig trittfester ist der Neulandboden schon geworden ...

Aber jetzt verheddert man sich in den Titeln der Hönigschen Unikat-Stempelbilder: "Dialog von Urfaustknall". Hermetisches Dadaisten-Raunen? Mehr als das. Zunächst ironisches Vorführen der linguistischen "Amuse-gueules" einer abgehobenen gastronomischen Höchstkultur, dann aber auch wirklicher Dialog zwischen Faust und dem Urknall, wobei letzterer dem suchenden Faust eine knallige Antwort gibt auf die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ist der gestempelte Stern auf dem Bild nicht der Urknall? Und der Fisch im Kopf: Weist er nicht auf die Evolution? Solche Assoziationen sind intendiert, bleiben aber in der ironischen Schwebe, wenn neben diesem Bild eine Galimathias-Serie hängt, heißt doch Galimathias, etwas grob ins Pfälzische übersetzt, Kokolores... So unernst auf einmal? In diesen Arbeiten befreit sich Hönig vom pseudorationalen Ernst mancher Auftragsarbeiten, hier ist er rücksichtslos er selbst - Selbstironie inbegriffen.

Und wieder spannt Ausstellungsmacher Zufall einen roten Faden: hin zu Kirschs Figur, die den Titel trägt "In sich gefangen". Steht nicht auch hier Befreiung auf der Tagesordnung? Sehen wir hier nicht den Menschen im Kokon der Konvention, eingesponnen von Fäden, die ihm mehr Geborgenheit geben, als er sucht, und ihm gleichzeitig weniger Freiheit lassen, als er braucht? Plötzlich zeigt uns ein altes Wort ein neues Gesicht: "Ent-Wicklung". Nur wer sich "ent-wickeln" kann, gewinnt seine Freiheit. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstgesponnenen Gewohnheit...

Und da meldet sich aus einer anderen Ecke des unerforschten Neulands eines der großen Bilder von Sabine Ostermann philosophisch zu Wort. Es stammt aus der Serie "Spiegelungen". Während die Bilder und Zeichnungen der Serie "Vernetzungen" menschenleer sind, fügt Ostermann bei den "Spiegelungen" Figuren ein. Es ist wie ein Experiment - mit einem atemberaubenden Resultat: Die Strukturen, die von ihnen ausgelösten Brechungen und Spiegelungen lösen die Figuren auf, sprengen ihre Einheit. Man gewinnt den Eindruck, dass von den Strukturen ein strukturalistischer Sog ausgeht, der das Individuum zum Verschwinden bringt. Ist es ein Zufall, dass diese Bilder erst in Berlin entstanden sind, also die Großstadterfahrung zur Voraussetzung haben?

Auf den ersten Blick scheinen die Kohle-/Kreidezeichnungen mit den offensiv farbigen Ölbildern wenig gemeinsam zu haben. Auf den zweiten Blick sind sie eng verwandt. Das farbigere, pulsierendere Leben der Ölbilder entspringt der in ihnen untergegangenen Individualität. So behauptet das Individuum den Strukturen gegenüber sein Recht: nicht, indem es bestehen bleibt, sondern indem es, diese verändernd, Eingang findet in die Strukturen.

Gegen diese - trotz aller Vitalität - ernüchternde Einsicht hält Kathrin Kirsch das Ideal von zwei gemeinsam schwebenden, miteinander verwobenen Figuren fest. Rilkes Verse fallen einem ein: "Liebende, ihr ineinander Gefügten, ihr greift euch. Habt ihr Beweise?" Allen Strukturen zum Trotz behauptet sich die Welt des Privaten, behauptet sich der ganz auf sich zurückgeworfene Mensch, wie er in ihren Aktbildern erscheint: vor einem blauen Hintergrund, der Geborgenheit zu geben scheint.

Eine Expedition ins Neuland der Kunst hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Unterschnittmalerei. Diese aus dem 17. Jahrhundert stammende Technik wird zur Zeit gerade wiederentdeckt und Nikolas Hönig gehört zu den wenigen, die sie beherrschen. Der Vorderschnitt eines Buches wird aufgefächert und in akribischer Feinarbeit mit Aquarellfarben bemalt. Der danach aufgebrachte Goldschnitt lässt die Unterschnittmalerei - im ungeöffneten Zustand des Buches - wieder verschwinden.

Haben wir, bei unserer kleinen Expedition, nicht das Buch dieser Ausstellung aufgeschlagen und die unter dem Goldschnitt liegende Malerei entdeckt? Und müssen wir jetzt nicht das "Neuland 4" weiter erforschen, das aufgeschlagene Buch weiterlesen, bis wir die Stelle finden, die uns beschreibt? Die Stelle, mit der uns ein unsichtbarer Faden verbindet?

Und wenn sich dann ein Faden spannt von einem Bild zu Ihren Herzen, dann führen Sie ihn doch bitte auch an der Stelle vorbei, wo man gewöhnlich das aufbewahrt, worüber man nicht spricht - wenn man es hat...


Besprechung von Beate Steigner-Kukatzki, Die Rheinpfalz vom 11.07.05

Von Mumien und Stadtbildern bis zum Dialog mit dem Urfaustknall

Speyerer Kunstverein eröffnet am Freitag Ausstellung "Neuland 4"

Zwei Frauen und ein Mann machen Kunst, Kathrin Kirsch, Sabine Ostermann und Nikolas Hönig. Doch die drei verbindet ein weiteres - sie haben etwas mit der Stadt Speyer zu tun. Ostermann und Hönig stammen direkt aus der Domstadt, die gebürtige Bremerin Kathrin Kirsch lebt seit vielen Jahren hier. Nun präsentiert der Kunstverein in seiner Reihe "Neuland", die zum vierten Mal stattfindet, drei Positionen in neuesten Arbeiten.

Den vernetzten Strukturen in Sabine Ostermanns Gemälden liegen Formen von Platinen und Strukturen von Stadtplänen zugrunde. In den gegenstandslosen Acrylgemälden und Kohle- und Kreidezeichnungen setzt sie diese geometrischen Formen ein, um unterschiedliche Ebenen miteinander zu verknüpfen und räumliche Tiefe entstehen zu lassen. Verwischungen erzeugen Schnelligkeit.

In den neuesten Werken sind große Glasfassaden ihr Thema. Die Verknüpfung von Räumen, Durchblicken, Einblicken und Spiegelungen thematisiert die Architektur der Großstadt. In erst ganz frei wirkende abstrakte Arbeiten setzt Ostermann nun auch silhouettenhafte Figuren. Mit dem Schritt zur Realität geht sie auch von der meist monochromen Farbgebung weg und setzt strahlendere Farben ein. Weiche amorphe Formen dominieren.

Die Kunsterzieherin Kathrin Kirsch nimmt seit Jahren am Aktzeichenkurs im Kunstverein teil. Ergebnisse sind nicht nur farbige spontane Zeichnungen, sondern auch kleine Tonfiguren, die ebenfalls vorm Modell entstehen. Die überwiegend weiblichen Figuren sind in ihren Formen nah an der Realität. Distanz hierzu schafft die Farbgebung.

Viel Blau erzeugt Distanz und Tiefe. Weitere Tonarbeiten sind in Erdfarben glasiert, bemalt oder ohne Farbüberzug. Parallel zu den kompakten Plastiken stehen textile Arbeiten aus feinen Gazestoffen. Sie sind zu Figuren geformt, entzerrt, aufgerissen und mit den ausgehenden Fäden im Objektkasten verspannt. Kokonhaftes, Geschütztes wechselt mit Gedanken an gefesselte Unbeweglichkeit.

Der Speyerer Nikolas Hönig studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Momentan lebt und arbeitet er in Mainz. Der Grafik-Designer zeigt seine 1903 entstandene Diplomarbeit, eine Buchausgabe von "Manhattan Transfer" von John Dos Passos. Er setzte den Text und illustrierte auch. Das fertige Werk ist neben den Vorlagen der expressionistischen Abbildungen, die auf 14 m langen Bahnen gemalt sind, zu sehen.

Im Rahmen eines Stipendiums entstanden Unterschnittmalereien zum "Parzival" von Wolfram von Eschenbach. Unter dem Goldschnitt liegen Miniaturaquarelle, die in geschlossenem Zustand nicht zu sehen sind. Aufgefächert erscheint eine farbige phantasievolle Landschaft. Einen Gegenpol zu seiner perfektionistisch akribischen, grafischen Arbeit schafft er mit großformatigen Stempeldrucken in Orange und Rot.

Auf Moosgummi bringt er die Farbe auf. Die Stempel variiert er in jeder Arbeit neu. Immer wiederkehrende Motive, wie das Waschmaschinenfunkgerät, menschliche und tierische Köpfe, und auch freie, spitze und strahlende Formen bringt Hönig in immer neuen sinnigen und unsinnigen Zusammenhang.





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