Portrait von Eva Maria Weilemann, Die Rheinpfalz vom 30.09.03

Es ist viertel vor sechs. "Interview" steht im Terminkalender, mit rot übermalt. Rot sind alle Sachen, die wichtig sind. Und da ist es dann auch nicht mehr so wichtig, wo man sich trifft: in einem Café, einem Wohnzimmer oder einer Bar. Denn der Mann, der zum Interview kommt, ist fulminant darin, Leute vergessen zu lassen, wo sie sich eigentlich befinden. Das ist sein Job - bzw. das, was er unter seinem Job versteht.

haegar ist Medienkünstler, schreibt sich absichtlich mit ae, hat ein charmantes Lächeln und redet nicht viel. Und wenn, dann über Linien, Loops, Samples und die "große Kunst des Weglassens". Pur soll sie sein, seine Interpretation von Raum, Farbe und Zeit, aber nicht so transparent, dass es keine Geheimnisse mehr gibt, keine kleinen Fragezeichen.

Sein Mix aus nicht berechenbaren und nicht entschlüsselbaren Effekten, dem Feeling für das richtige Bild zur richtigen Zeit und der Passion für Perfektionismus machen haegar zu einem Ausnahme-Künstler, der sich sein vielseitiges Know-How kontinuierlich erarbeitet hat.

Nach ersten Experimenten zu Schulzeiten dreht der inzwischen 30-jährige Zeiskamer erste Video-Clips, jobbt im Bereich der Industrie-Werbung, beginnt mit Grafik, Malerei und experimentellen Internet- und Video-Arbeiten.

Dass es ihm viel mehr liegt, "Filmsequenzen durchs Mischpult zu jagen, darüber ein Mosaik zu legen und dann die Farbe wegzunehmen", als klassischer Ausstellungskünstler zu sein, hat der in Germersheim geborene diplomierte Neue-Medien-Student definitiv mit dem Start eines neuen Projekts gemerkt, das er zusammen mit Tommy Baldu initiierte.

Bei "Balduclub" kann er sowohl alle Bereiche seines Studiums an der Hochschule der Bildenden Künste in Saarbrücken einbringen als auch die Live-Video-Performance-Erfahrungen mit Tino Oac (Söhne Mannheims), Madhu und Christina Lux, die zur Zeit ihr neues Live-Album promotet. Was den Expo-Künstler fasziniert an der kreativen Live-Interaktion, ist die Unberechenbarkeit und letztlich auch Einzigartigkeit von Eindrücken, die in der Sekunde, in der sie entstehen, bereits Kunstwerk sind: unmittelbar und speziell. Der Versuch, improvisierten Sound visuell zu realisieren, bleibt für haegar immer eine von vielen Möglichkeiten, Beats Bilder zu geben.

Deshalb gibt es keine gleichen Motive zu einem bestimmten Song. haegars Video-Show ist nicht fest inszeniert, sondern größtenteils spontane Reaktion auf das, was auf der Bühne passiert, wenn Tommy Baldu (Schlagzeug), Eckes Malz (Keyboard, Samples, Akkordeon), Jörg Dudys (Gitarre) und ihre Gäste performen. Neben seinem Laptop und dem Mischpult liegen deshalb öfter mal die Malstifte seiner beiden Kinder, Orangenhälften oder Ölflaschen, aus denen er zusammen mit der Videokamera neue Loops und Raum-Impressionen kreiert.

Die sind dann das einzige Licht im Raum, Bühnenbeleuchtung gibt es nicht. Das dadurch entstehende Verschwimmen der verschiedenen Ebenen machen den Bühnen- und Publikumsraum zu einer nachträglich nicht mehr zuordenbaren, suggerierten Einheit, die gleichzeitig als Plattform für "die jedes Mal komplett neu erfundenen" 3D-Animationen funktioniert.

Es ist viertel vor zehn inzwischen. Der Finalist des "Multimedia Transfer 2003" bei der "Learntec" in Karlsruhe hat immer noch sein charmantes Lächeln und redet immer noch von Wasserflächen-Animationen, zu Standbildern verarbeiteten Bodenstrukturen und von gefilterten und mit Farbe überlegten Störbild-Sammlungen. Und damit endet das Interview mit dem Mann der Bilder, der Worte nur deshalb benutzt, um ihnen Farben zu geben, Linien und Beats. Und gleichzeitig ist klar: das Rot im Terminkalender war absolut berechtigt.


Einführung von Christina Biundo zur Ausstellung "strukturen", Saarburg

haegar betrachtet und bearbeitet in einem Großteil seiner Arbeiten die oberflächliche Erscheinungsform der uns umgebenden Welt. Er geht hinaus und sucht die Impulse und Objekte seiner Arbeiten in der realen Umgebung. Er nimmt mit der Kamera Situationen auf, die zum größten Teil eine vom Menschen überprägte Welt zeigen.

Hochspannungsmasten zerschneiden die homogene Fläche des Himmels und teilen ihn - geht man langsam mit nach oben gehaltener Kamera immer ihrem Verlauf nach - in Formen und Farbeinheiten. Es entsteht eine Struktur, in der sich Linie und Fläche in Bewegung gegenüberstehen und die nur in ihrem Zusammenhang zu erkennen gibt, um was es sich handelt.

Der Betrachter muss sich Zeit lassen, abwarten, sich geduldig tragen lassen von dem Strukturen-System, um zu erkennen, was er sieht. Der in der Arbeit implizierte Erkenntnisprozess, das Wiedererkennen von bereits Bekanntem, lediglich in einem fremden Zusammenhang und eingeschränktem Bildausschnitt, muss vom Betrachter oder der Betrachterin nachvollzogen werden. Wir werden mit einbezogen in die Arbeit, um zu erkennen. Ansonsten bleibt die Struktur lediglich Struktur und vollzieht folgerichtig die stille Ästhetik ihrer Existenz.

Struktur als System prägen auch ein anders Video: Aus dem Fenster eines fahrenden Pkws filmt haegar die Mittelstreifen einer Landstraße. Er nimmt Erscheinungsbild, Schnelligkeit und Atmosphäre der Situation auf. Die Straße führt in ihrem Verlauf durch einen Tunnel und die Farbigkeit und Atmosphäre verändern sich komplett. Was wir ungeschnitten auf dem Originalband sehen würden, wäre eine getaktete Bewegung, die in ihrem Zusammenhang eine sich wiederholende Struktur, einer von Menschen geprägten Welt ergibt.

Der künstlerische Prozess setzt hier an. haegar verändert die Geschwindigkeit der Aufnahme (halb so schnell/doppelt so schnell) und lässt die verschieden schnellen Bänder in Reihe nebeneinander laufen. Die Szene beginnt auf allen Monitoren gleich. Die Bilder bewegen sich, aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeit, sehr schnell auseinander. Nur in einem Augenblick treffen sich die Linien wieder, um eine Sekunde gleich zu laufen. Sie bilden diesen Moment lang eine zeitliche und formale Einheit, bevor sie sich wieder voneinander lösen, um ihrem eigenen Takt zu folgen. Es scheint eine Auflösung von Zeit und Dimension stattzufinden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihrer Vergänglichkeit zu einer allgemeingültigen, zeitüberwindenden Struktur vereint.