Landschaft als Erfahrung
Einführung von Martin Gesing, Leiter Stadtmuseum Beckum, zur Ausstellung "Land.Gewässer", 2013

"Wie oft, glaubst Du, habe ich an diesem denkwürdigen Tage, auf dem Rückwege umblickend, den Gipfel des Berges betrachtet, und er schien mir kaum die Höhe einer Elle zu haben gegenüber der Höhe menschlicher Betrachtung…" Francesco Petrarca
(In einem Brief über die Besteigung des fast 2.000 m hohen Mont Ventoux in der Provence im Jahre 1336)

Sucht man im allgemeinen Sprachgebrauch nach dem Gegenbegriff zu natürlich, so wird man in der Regel das Adjektiv künstlich dafür verwenden. Hierbei liegt die Vorstellung zugrunde, dass im Bereich des Natürlichen alles wie von selbst und ohne Zutun zu geschehen scheint, im Bereich des Künstlichen hingegen alles artifiziell von Menschenhand erschaffen werden muss. Aus diesem verständlichen Gegensatzpaar wird dann oft die Schlussfolgerung getroffen, dass auch Kunst und Natur eine Polarität bilden würden, was natürlich ein Missverständnis ist. Denn künstlich darf nicht mit künstlerisch verwechselt werden. Letzteres bedarf wesentlich anderer Voraussetzungen.

Natur und Kunst sind auch deswegen Gleichnis- oder Bündnispartner, weil sich die Kunst schon immer mit nichts anderem häufiger und intensiver befasst hat als mit der Natur. Kunst ist folglich kein Gegensatz zur Natur, sondern eher ein Gegenstück, ein Widerpart oder eine Spiegelung der Natur, aber eben kein Gegensatz. "Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig" formulierte Paul Klee. In genau dieser Spannbreite von Natur und Kunst befindet sich der künstlerische Ansatz von Irmgard Weber. Und das seit vielen Jahren und mit wachsender Intensität, was sehr viel mit Beobachtungsgabe und auch menschlicher Erfahrung zu tun hat.

Irmgard Weber arbeitet in den klassischen Bereichen der Kunst, in der Zeichnung und in der Malerei, die für sie noch immer nicht ihre Faszination verloren haben. Dies wirkt sehr wohltuend angesichts des aktuellen Trubels im Bereich der sogenannten neuen Medien, die leider oftmals schrill und grell am Markte sind. Konsequenz und Beharrlichkeit, Zwischentöne und Nuancen hingegen bei Irmgard Weber, die den Königsdisziplinen der Kunst treu geblieben ist, die noch immer ihr Antrieb sind und mit deren Ergebnissen sie uns als Betrachter seit langer Zeit auf vielfältige Weise beglückt.

Landschaften sind ihr bevorzugtes Thema: Landschaften in ihrer üppigen Pracht, in ihrer Vielfältigkeit und Natürlichkeit, im Entstehen wie auch in ihrer Vergänglichkeit, in ihrer Eindringlichkeit und ihrer Geheimnisfülle. Viele Arbeiten entstanden vor Ort während intensiv erlebter Reisen, sei es in den mediterranen Süden mit seinem milden Licht oder bevorzugt in den eher ruppigen Norden mit seinen mehr herben Ausformungen wie zum Beispiel den Gletschern auf Island. Das jeweils Andersartige von Landschaft kann man in den Bildern und vorrangig an den darin auftretenden Farben "schmecken". Vor allem anhand eines sanften Grüntones, an Grau grenzend, lassen sich die jeweiligen Orte zuordnen. Arbeitsaufenthalte in Island und Norwegen haben sie besonders beeindruckt und zu einer neuen und reichen Serie von Bildern geführt.

Die künstlerische Arbeit von Irmgard Weber besteht darin, Landschaften vor Ort aufzunehmen, sei es durch Sinneseindrücke oder konkrete Bleistiftzeichnungen, um sie später im Atelier an die Leinwände wieder abzugeben. Landschaft wird hier im Sinne Max Friedländers verstanden, der sie als "das Gesicht des Landes" bezeichnete, als "Land in seiner Wirkung auf uns." (Über die Malerei. München 1963, 27.) Dies setzt Empfänglichkeit oder gar Bewunderung und natürlich Erinnerungsvermögen voraus, damit Erlebtes lebendig bleibt. Großformatig oder kleinformatig spielt für Irmgard Weber keine Rolle. Was das große Bild in Gänze und im Überblick zeigt, gibt das Kleinformat als detaillierten Ausschnitt wieder.

Im Ergebnis entstehen Landschaftssituationen, die natürlich immer nur einen Ausschnitt der gesehenen Realität ausmachen. Dieser aber ist sorgsam gewählt und in eine neue und stimmige Komposition gebracht, vergleichbar dem Fokus eines Fotoapparates. Irmgard Weber erreicht in ihren Bildern ein stimmiges Verhältnis der Gegensatzpaare Harmonie und Spannung, Stille und Lebendigkeit, Nähe und Ferne, Formgebung und Abstraktion sowie Deutlichkeit und Verunklärung.

Mit ihren Bildern ist Irmgard Weber für mich vornehmlich eine Koloristin, die sich in erster Linie den Eigenwerten der Farbe verpflichtet fühlt. Diese sind ihr wichtigstes Ausdrucksmittel. Mit ihnen fängt sie Licht und Stimmungen ein und bestimmt den wesensgemäßen Charakter eines jeden Bildes und die ihm innewohnenden Emotionen. Die gegenstandslos belassenen Malflächen bilden ein reines, tonal sorgfältig abgestimmtes Farbmeer. Grün und Blau überwiegen natürlich, bisweilen gesellt sich ein lichtes Gelb hinzu. Frische und Unmittelbarkeit sind die wichtigsten Charakteristika ihrer Farben. Die Form und die Anordnung der Farben hingegen sind nachgeordnet, wenngleich sie mit graphischen Strukturen ihre Bilder zu beleben und zu ordnen weiß. Hierbei können passagenartig beinah gegenständlich wiedergegebene Dinge auftauchen: ein Bachlauf, ein Stapel Holz, eine Fichte, ein Boot, eine Wolkenformation und vieles anderes Erkennbares mehr.

Im Falle des Oslofjords wollte sie sich wegen der Eindringlichkeit der Landschaft kaum von der vorgefundenen Situation lösen, sondern hat die von ihr als Idealkomposition empfundene Landschaft in ihrer Beschaffenheit belassen und sich ganz dem Reiz des Wandels von Licht und Farben gewidmet und diesen geradezu zum Konzept erhoben. Auch der Wechsel in den Darstellungsarten, abstrakt oder gegenständlich, trägt zur Lebendigkeit ihrer Bilder bei. Getreu klassischer Kompositionen arbeitet sie oft mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund, was zur genussreichen Wanderung unserer Augen beiträgt.

Während die Leinwandbilder verdichtet und komprimiert erscheinen, wirken ihre Arbeiten auf Papier naturgemäß leichter und lichter. Es sind Skizzen vor Ort, die angelegt wurden, um Situationen später auf Leinwand umzusetzen, oder direkte Abbildungen von als schön empfundenen Blüten, die am Wegesrand oder auch im eigenen Garten entdeckt wurden. Die Blätter wirken wie von lockerer Hand so einfach hingemalt, zeugen jedoch von großer sinnlicher Erforschung und malerischer Umsetzung. Mancher Kundige wird die eine oder andere Blume sofort bestimmen können.

Während die erlebte Landschaft in ihrer malerischen Faszination den Kern ihrer künstlerischen Landschaft bildet, so kommt der Mensch in diesen Landschaften eher selten vor, zumal nur fragmentarisch, als Schatten oder als Zeichen - mehr als Allegorie oder Metapher seiner selbst. Dies mag der Einsamkeit der ausgesuchten Landschaften geschuldet sein, aber wohl auch der Erkenntnis, das dem Menschen eine wichtigere Aufgabe zukommt: ihm obliegt die Reflexion über das zu Sehende und zu Bestaunende in der Natur. Hierbei geht es Irmgard Weber auch um die Bewahrung der Natur und ihrer ständigen Abläufe, weshalb auch Vergänglichkeit und Zerfall in den Bildern als normaler Prozess thematisiert werden. Und die von ihr auch gezeigte Schönheit der Natur präsentiert sie nur gemäß dem Ausspruch Kasimir Malewitschs, dass die Sonne nicht aus Schönheitsgründen auf- und untergehe, sondern aufgrund größerer Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten.

Insofern handeln ihre Bilder nicht nur von Landschaften, sondern auch von Menschen, die derartige Landschaften erleben und von solchen, für die derartige Landschaften im Bild festgehalten wurden. Hierin erfüllt sie einen wesentlichen Aspekt von Kunst, nämlich der Weitergabe sinnlicher Erkenntnisse und Erfahrungen. Wenn die Eindrücke über die Einzigartigkeit der Natur besonders groß sind, wächst im Menschen der Wunsch nach Bildern der Erinnerung. Irmgard Weber erschafft diese Erinnerungsbilder und reicht sie an uns weiter, als Beschenkte.


Auszüge aus dem Katalogtext "Standbilder" von Dr. Beate Reifenscheid, Ludwig-Museum, Koblenz

"Das, was auffällt, sind die amorphen Formen, die sehr wohl etwas Gärendes, im Wachstum begriffenes oder in Bewegung befindliches ausdrücken. Nichts scheint wirklich starr zu sein, vielmehr ist alles in eine subtile, manchmal kaum merkliche Schwingung versetzt, die nicht allein auf das Bildfeld limitiert ist. Die auf den ersten Blick so kargen Zeichnungen, ohnehin fast spröde, da sie sich jetzt nicht mehr optisch so rasch vereinnahmen lassen, wirken wie in oszillierendem Zustand, wie in ständigem Wechsel zwischen dem einen und dem anderen Seinszustand. Die sparsamen Farbstufen zwischen Weiß, Grau und Anthrazit steigern das Empfinden zwischen Kommen und Gehen, Werden und Vergehen, und damit auch die Charakterisierung der Welt als ein nur transitorisches Stadium. Dennoch verflüchtigt sich das Bildgeschehen nicht im Beliebigen, vielmehr bilden sich Zonen der Verdichtungen, Verknotungen, Verankerungen und Vergitterungen, die alles Entfliehende abfangen und verorten.

In den Gemälden setzen sich wesentliche Aspekte der Zeichnung fort, die hier auf Grund einer reichen Koloristik wieder wesentlich stärker auf deskriptive Elemente ausgerichtet sind und dennoch gleichermaßen eine vollständige Entschlüsselung verweigern. Aber hier, so will es scheinen, sind die Bezüge, die sich vom Gegenständlichen ableiten, vergleichsweise sekundär, denn der Blick des Betrachters wird eingefangen von einem Farbgefüge, das kompliziert und einfach zugleich anmutet. Vor allem in den neuesten Arbeiten herrscht ein Grundton deutlich vor, dem sich eine Vielzahl zarter Farbvaleurs unterordnet, die ihrerseits für den koloristischen Gesamtakkord wichtig sind. Schicht um Schicht überlagern sich nun Farben, so dass ein konsistentes Farbspiel entsteht, in dem die Farbe sich selbst genügt und mit ihr die Dimensionen von Raum und Zeit.

Irmgard Webers Kompositionen umkreisen die essentielle Auseinandersetzung von Mensch und Natur, suchen nach einer friedvollen Koexistenz des einen mit dem anderen und scheinen doch ganz freiwillig der Natur den Vorrang lassen zu wollen. Der Mensch spielt bei ihr in letzter Konsequenz nur schemenhaft, quasi als Muster, eine Rolle, wohl wissend, dass die menschliche Figur, das Individuum, nur als eine - wenngleich wesentliche - Randerscheinung im Werden und Vergehen von Zeit und Raum anzusehen ist.

Irmgard Webers Arbeiten veranschaulichen glaubhaft, wie sehr aus dem individuellen Tasten und Suchen nach gültigen Wahrheiten im Leben die Natur und der Mensch in ihrer Bedingtheit und ihrem Gefangensein auf einen weit größeren Kontext verweisen: Sie sind auf eindringliche Art malerische Reflexion als Vergewisserung über diese Ahnungen".