Einführungsrede von Clemens Jöckle zur Ausstellung in Buchen/Odenwald am 17.10.04

"Alles Große ist einfach". Ernst Heimeran, der geniale Verleger und Essayist, hat diesen Aphorismus eines seiner Lehrer überliefert. Ich ergänze: "Man muß nur darauf kommen"! Diese Feststellungen treffen auf Erich Schmitt inhaltlich zu. Schmitt ist Studiendirektor - inzwischen im kreativen Unruhestand, hat 1957 bis 1960 im Nebenfach Fotografie an der Technischen Hochschule Karlsruhe bei Carl Albiker studiert.

Seine Diplomarbeit hat den sehr naturwissenschaftlich klingenden Titel "Aktinität von Xenonlicht auf unsensibilisiertem, ortho-, normal- und höchstpanchromatischem Film bei kurzen Belichtungszeiten", auf Deutsch, die fotochemische Wirksamkeit der Lichtstrahlung des Edelgases Xenon und ihre Wirkung auf bestimmtes Fotomaterial. Sie entstand 1960 am Lehrstuhl für Lichttechnik bei Prof. Otto Reeb. Dreißig Jahre später entwickelte er die Technik der "Kaleidografie".

Ausgehend von der Erfindung von Sir David Brewster im Jahr 1816 setzte Schmitt den optischen Effekt von Spiegeln ein, welche Bilder von Splittern gefärbten Glases in einem symmetrisch angeordneten, geometrischen Muster in den Augen des Betrachters hervorbringen. Ursprünglich als Kinderspielzeug gedacht, entwickelte Erich Schmitt daraus einen innen verspiegelten hohlen Dreikantständer als Linsenvorsatz für seine Hasselblad, dessen Spiegel in Winkeln von 60° angeordnet sind. Ferner wird das menschliche Auge durch die Fotolinse ersetzt und so jeder Gegenstand, der fotografiert werden soll, dem Gesetz der Spiegelung durch das Kaleidoskop unterworfen. Es sind also keine Glassplitter mehr am Boden wie beim Kinderspielzeug, die den Effekt der Spiegelung für das Auge bewirken.

Daraus entsteht eine bedeutende und durchaus bis heute einmalige Kunstfotografie, denn dieser Technik hat sich bis jetzt nur Erich Schmitt bedient. Deswegen sind zurecht Kunstfotografien von ihm durch die Pfalzgalerie Kaiserslautern angekauft worden, eine Ehre, die nur ausgewählten pfälzischen Künstlern bisher zuteil geworden ist.

Von daher begegnet den Besuchern in den vier Themenbereichen dieser Ausstellung in jeder Hinsicht Außergewöhnliches. Zunächst entsteht durch die gewählte Aufnahmetechnik eine kristalline Brechung der Bildgegenstände. Kristalline Brechungen sind aber seit dem 20. Jahrhundert im Rahmen der kubistischen Malerei in der radikalen Vereinfachung und Rückführung auf die Geometrie Signete der Spiegelung des Geistigen. Es geht also bei der Kaleidografie nicht um die Abbildung, sondern um den Kompositions- und Ordnungsfaktor in der Fotografie.

Dies zeigt sich einerseits in der Auflösung der Form von Pflanzen im Licht und der Heraushebung der geometrischen Rispen in den Blättern als grafischer Faktor, sodass die unregelmäßige Natürlichkeit der Form zu ihrer geometrisch aufgefassten Struktur in Spannung gesetzt wird. Während das Bildzeichen in den Vordergrund drängt und die Rispen ein abstrahiertes Muster ergeben, wird die Farbe der Natur, das Grün beispielsweise, als Farbwert in seine unterschiedlichen Helligkeiten zerlegt und zu voller Orchestrierung des Malerischen, ebenfalls angesichts einer Auflösungstendenz des Gegenständlichen, genutzt.

Auflösung in Farbe und Hervorhebung der Form führen regelrecht zu Vernetzungen. Gelegentlich wird in einigen Beispielen auch mit dem kristallinen Reflex des bläulichen Lichtschimmers gespielt und dieser als Lichtzeichen eingesetzt. Einige Arbeiten isolieren die große Form und arbeiten ihre Struktur im aus Licht gestalteten, malerisch empfundenen, reinen Farbenraum heraus, in anderen Arbeiten vervielfältigt sich die Form des Bildgegenstandes, beispielsweise der Fruchtständer einer Blüte, und bildet eine All-Over-Struktur auf dem Bildgrund.

Die so gesetzten geometrischen Aneinanderreihungen der Formen erinnert an die OP-Art, als dessen bekanntester Vertreter Victor Vasarely gilt. Ähnlich wie Vasarely bricht Erich Schmitt geheimnisvolle Bildräumlichkeiten mit Verstand und Gefühl auf. Seine Blüten, Pflanzen gewinnen eine archetypisch verstandene Architekturdimension, weil Außen und Innen der Naturform in der Kaleidografie nicht zwei Dinge sind, sondern sich durchdringen. So entsteht eine Art "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt", um mit Peter Handke zu sprechen. Bei Erich Schmitt braucht es schon gelegentlich den doppelten Genitiv!

Bauwerke in vielfältiger Gestalt werden mit lichter Rasterästhetik durch die Kaleidografie der Endlichkeit beraubt und zu serieller Wiederholbarkeit angeordnet, wobei sich z.B. das Raster aus Fensterflächen und Lammellen mit den Decken zu lichtschneidender Kontur und Transparenzen auflöst, wo eigentlich Festigkeit der Form sich logisch ergeben würde. Die scheinbare Einfachheit der Komposition mit ihrem Raster als Empfindung einerseits wird zur komplexen Wahrnehmung, welche mit Gefühlen wie flächig, hart, metallisch einerseits und andererseits in der Spieglung als stofflich, räumlich, warm und organisch Gegensätzliches verbindet.

Die Kaleidografien von Erich Schmitt sind, um mit Max Imdahl zu sprechen, "wirkendes Werk", das ein Wechselspiel räumlicher und flächiger Fixierung im Motiv bedingt.

So bleibt in vielen Arbeiten offen, was Wirklichkeit und was Spiegelung ist; denn auch hier findet man geometrische Strukturen, wenn die Kamera von Erich Schmitt auf eine Uferstelle am Wasser gerichtet worden ist und Spiegelungen auf der Wasseroberfläche und die Landschaftsszenerie auf gleiche Weise verfremdet worden sind. Gleiches gilt für den Mikrokosmos und Luftblasen des Wassers. Zugleich bildet der durch optische Effekte hervorgerufene formale Rhythmus - sei es in Landschaftsmotiven oder Stilleben - unterschiedlich weit voran getriebene Abstraktionen.

Dem heute allerorten begegnenden Begriff der "virtuellen Wirklichkeit" setzt Erich Schmitt eine dynamisch erscheinende, faszinierende Weltsicht entgegen und verschafft in Ein- und Durchblicken neue Facetten der Wirklichkeit, gerade dort, wo der geometrische Blick durch die Bausteine der Natur hindurchzugehen scheint. Der Natur eigenes Ordnungssystem wurde durch das des Künstlers selbst ersetzt. Erich Schmitt bildet nicht Natur ab, sondern bedient sich der schöpferischen Gesetze des Kreatürlichen und schafft so analog wie die Natur in ihrer Werkstatt neue Bildwelten.